Machtwechsel an der Weichsel – Polen hat gewählt

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Jaroslaw Kaczynski und Beata Szydlo

Jaroslaw Kaczynski und Beata Szydlo,

Die gestrigen Parlamentswahlen brachten einen erdrutschartigen Sieg der nationalkatholischen Partei Recht und Gerechtigkeit PiS. Voraussichtlich wird die PiS sogar allein regiern können.

Polen hat gestern gewählt und die Nation saß ab 20:45 vor dem Fernseher, denn um 21 Uhr schlossen die Wahllokale. Genau dann sollten die ersten Prognosen veröffentlicht werden, deren Grundlage Nachwahl-Befragungen bildeten. Und genau um 21:05 war der Abend nach nur wenigen Minuten Hochspannung gelaufen.

Schon bei diesen ersten Prognosen war deutlich, dass es einen Erdrutsch gegeben hatte: Die bisherige Oppositionspartei PiS ist haushoher Sieger. Hatte die bisher regierende PO vor vier Jahren noch 33,7 Prozent der Wähler auf sich vereint, waren es nun zehn Prozent weniger. Für die PiS hatten damals nur 23,2 Prozent der Wähler gestimmt, heute sind es fast 15% mehr. Wie es zur Zeit (15 Uhr, 26.10.) aussieht, kann Beata Szydlo von der PiS nun allein regieren. Das hat es Nachwendepolen noch nie gegeben. Gleichzeitig hat sich das Parteiengefüge Polens stark verändert. Nun ist keine sozialdemokratische oder andere linke Partei mehr im Parlament vertreten. Die Vereinte Linke ZL war ein Wahlbündnis und hätte nach polnischem Wahlrecht für den Parlamentseinzug mindesten 8 % der Wählerstimmen erreichen müssen. Dafür schaffte mit Pawel Kukiz ein Rockmusiker den Parlamentseinzug mit einem Programm, das hauptsächlich aus dem Dagegen-Sein besteht. Mit der Nowoczesna des wirtschaftsliberalen Ryszard Petruschaffte schaffte noch ein Newcomer den Sejm-Einzug

So hat Polen gewählt:

  • PiS                                            37,7 %
  • PO                                            23,6 %
  • Kukiz’   15                                  8,7 %
  • Nowoczesna                              7,7%
  • PSL                                             5,2 %
  • Vereinte Linke ZL                      7,5 %
  • Korwin                                        4,9 %
  • Sozialdemokratie Razem          3,9 %

Quelle: Ipsos TVN24

So wird das neue polnische Parlament nach neuesten Umfrageergebnissen aussehen:

  • PiS                              232 Sitze
  • PO                               137 Sitze
  • Kukiz’15                       42 Sitze
  • Nowoczesna                30 Sitze
  • PSL                               18 Sitze
  • Deutsche Minderheit    1 Sitz (von der Fünfprozenthürde befreit)

Quelle: Ipsos TVN24

Das Ende der PO-Regierung

Die Niederlage der PO taugt zum politischen Lehrstück. Sie zeigt, wie weit sich Politiker und ihre Parteien vom Wahlvolk entfernen können. Schon bei der Präsidentschaftswahl im Mai zeigte sich, wie sehr die PiS die PO mit ihren volksnahen Themen unter Druck setzte, die ganz einfach nach dem Motto „Die verstehen mich und meine Sorgen“ präsentiert wurden. Der Wähler fühlte sich und seine Sorgen verstanden und lief in Scharen über. Davon hat sich die PO bis heute nicht erholt. Der Wahlkampf beschränkte sich auf Eigenlob für das Erreichte.

Die Fakten sprechen für diese achtjährige Erfolgsgeschichte: sinkende Arbeitslosigkeit, die erstmals unter zehn Prozent liegt, ein fast 40-prozentiges Wirtschaftswachstum, ein fest in NATO- und EU-Strukturen eingebettetes Polen mit soviel Sicherheit und Wohlstand wie fast nie in seiner Geschichte.

Und dennoch gab es Protestwellen ohne Ende von den Bergarbeitern über die Bauern, Krankenschwestern und Lehrer bis zu den Beamten. Dazu ein durch und durch marodes Gesundheitssystem, in dem die nötigen Untersuchungen nicht immer so zeitnah durchgeführt werden, dass der Patient überhaupt auch eine Chance auf ein Überleben der Krankheit hat. Obendrein wird das Rentensystem immer wackliger, die Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre wurde der PO nicht mehr verziehen.

Zwar sind die Einkommen der Polen in den acht PO-Jahren gestiegen, allerdings nur um zwanzig Prozent. Der statistische Durchschnittspole verdient heute an die 1.000 Euro. Das hört sich passabel an, nur ist dieser Durchschnittswert theoretisch. Es gibt viele Polen, die ein Mehrfaches verdienen, aber auch sehr viele, die dramatisch weniger verdienen. Es gibt eine große regionale Disparität nach der Gleichung je weiter der Wohnort von Warschau entfernt ist, desto niedriger die Löhne und Gehälter. Auch die Renten sind ein Dauerthema in Polen, es gibt zu viele Menschen im ländlichen Raum, die, wenn es hoch kommt, rund 300 Euro erhalten, viele noch weniger. Ein weiterer Punkt ist die Auswanderungswelle. Aus Polen emigrierten in den letzten Jahren 2 Millionen Menschen der Arbeit wegen. Darunter sind viele hoch qualifizierte Menschen, die im Land keine Chance auf eine gut dotierte Stellung erhalten. Haben sie endlich einen Job ergattert, handelt es sich meist um einen „Müllvertrag“, einen mies dotierten befristeten Vertrag, der keinerlei soziale Sicherheit gewährt. Ein Vertrag folgt – wenn es gut geht – dem nächsten. Das bedeutet, diese jungen Polen sind gezwungen zu Hause bei den Eltern zu leben, denn keine Bank der Welt gibt dieser Gruppe eine Kredit für den Wohnungskauf (in Polen gibt es kaum Mietwohnungen).

Generell sind die Polen müde von der Hatz der letzten 26 Jahre und haben das Gefühl, dass es sich für sie nicht lohnt, die dauernden Veränderungen mitzumachen, sich abzustrampeln und sich ständig umstellen zu müssen. Zu wenig ist unten angekommen und hat ihr Leben erleichtert, sicherer gemacht oder ihren Wohlstand erhöht. Da helfen neue Straßen, moderne Eisenbahnzüge und neue Flughäfen genauso wenig, wie schicke neue Innenstädte mit bunten Fontänen,Shoppingmalls, tollen Hotels, Sportanlagen oder Amphitheater nicht. Und irgendwie meinten viele Polen, mit denen man sprach, der Weggang von Donald Tusk nach Brüssel sei so etwas wie die Flucht vom sinkenden Schiff.

Deshalb hat die PiS die Wahl gewonnen. Es war ein Sieg auf ganzer Linie, der erstmals die gewohnten Grenzen Polen A und Polen B aufweichte, den die Zuwächse unter jungen Menschen und unter der Stadtbevölkerung war phänomenal. Unter den 18-29jährigen erreichte die PiS 25,9% (Kukiz 20,7%) und die PO nur 14,4%. Auch unter den 30-39jährigen liegt die PiS mit 29,7% vor der PO, die 23,9% erreicht. Noch größer ist der Vorsprung unter den 40-49jährigen, in der die PiS auf 37,5% kommt, die PO nur auf 25,7%. Unter den älteren Polen liegt die PiS mit mehr als 20% Vorsprung vorn. Noch frappierender ist die Veränderung in Vergleich Stadt-Land. In allen Ortsgrößen ist die PiS nun stärkste Partei, selbst in den Großstädten liegt sie mit 30,6% von der PO mit 28,5%. Es war bei dieser Wahl sogar egal, wie hoch das Bildungsniveau der Wähler war die PiS war bei allen Gruppierungen die stärkste Partei.

Wie wird das neue Polen der PiS aussehen?

Mit katholisch bestimmter nationaler Prägung, oft voller Pathos mit dem Willen zur patriotischen Erziehung der Kinder, EU-skeptisch, ausschließlich auf das vermeintliche Wohl Polens fixiert ist das Weltbild der Wahlsieger-Partei. Die PiS ist die Partei der gefühlten Verlierer, denen soziale Wohltaten versprochen werden, die aber nicht erfüllbar sind. Andererseits stimmt die gesellschaftliche Realität nicht mit diesem konservativ-nationalistischen Gesellschaftsentwurf der PiS überein.

Bezeichnend für das neue, aber womöglich doch alte Gesicht der PiS war der erste Auftritt der Wahlsieger, der Partei Recht und Gerechtigkeit PiS. Minutenlang redete der Parteivorsitzende Jaroslaw Kaczynsski und machte deutlich, wer der Chef im Laden ist. Er sagte, vor zehn Jahren und zwei Tagen sei sein Bruder Lech Kaczynski zum Präsidenten Polens gewählt worden. Nach dem Sieg der PiS bei der darauf folgenden Parlamentswahl habe er seinem Bruder Lech Vollzug gemeldet.

Mit den gleichen Worten meldete Jaroslaw Kaczynski nun im Beisein seiner Nichte, der Tochter des verstorbenen Präsidentenpaares Marta Kaczynska voller Pathos und Emotion seinem verstorbenen Zwillingsbruder Lech: Panie Prezydencie, melduj? wykonanie zadania, Herr Präsident, ich melde die Erledigung der Aufgabe. Ohne seinen Bruder sei die vereinte Rechte nicht denkbar, und nur eine vereinte Rechte habe diesen Sieg erringen können, sein Bruder Lech sei nun bei ihnen, ergänzte er.

Erst dann, fünfzehn Minuten später durfte seine Spitzenkandidatin Beata Szydlo die Bühne betreten und nahm die Glückwünsche ihres Parteivorsitzenden entgegen – mit Handkuss und Blumenstrauß. Und sofort stellte sich bei PiS-kritischen Medien in Polen die Frage: Wie lange wird Szydlo regieren dürfen, bevor wie vor zehn Jahren, als Kaczynski seinen Platzhalter im Amt des Premierministers Kazimierz Marcinkiewicz nach nur neun Monaten im Amt abgelöst hatte?

Bei allen Hoffnungen, die auch viele Polen seit der Präsidentenwahl hatten, bleibt die PiS doch ganz offenbar die Alte, wenn auch im neuen, modernen Gewand und mit ein paar frischen Gesichtern – und mit einem Kaczynski als Wolf im Schafspelz.

 

Deutschland, die EU und das neue Polen

Es wird eine Rolle rückwärts werden, der Wind aus dem Osten weht nun wieder kälter mit einem Kaczynski, dessen Äußerungen über die Flüchtlinge in anderen Ländern dem Tatbestand der Volksverhetzung nahe kämen. Kompromisse sind von einer PiS-Regierung kaum zu erwarten. Generell wird die neue Regierung stets vehement aus einer nationalen Position heraus verhandeln, Gemeinschaftsgeist und Solidarität sollte man in Brüssel lieber nicht erwarten, eher ein beherztes Durchsetzen nationaler Interessen, notfalls auf dem Weg der Blockade. Schaut man sich Ungarns Orban und seine Politik an, kann man sich vorstellen, woher der Wind aus Polen wehen könnte. Es wird schwieriger werden, mit ähnlichen Positionen wie unter der ersten PiS-Regierung von 2005-2007 – allerdings mit konzilianterem Ton.

In vielen polnischen Köpfen ist das gebetsmühlenartig über Jahre immer wieder vorgetragene PiS-Weltbild angekommen. Dazu gehört auch die Gleichung EU=Deutschland=Merkel, was schlicht bedeutet, dass Deutschland die EU regiert. Alles unter dem Motto, das leider auch zuweilen in Polen vom kleinen Mann auf der Straße zu hören ist: Was ihr im Krieg mit Waffen nicht geschafft hat, macht ihr jetzt mit eurem Geld. Es geht soweit, dass glatt negiert wird, dass Polen 2003 in einem Referendum für den EU-Beitritt gestimmt hat und Polen mit 60 Milliarden Euro der größte EU-Nettoprofiteur ist. Das alles ist genauso wenig logisch wie die irrationale Angst vor Bedrohung und Überfremdung durch ein paar tausend Flüchtlinge oder vor dem einen Quadratmeter Stoff, den eine muslimische Frau womöglich auf dem Kopf trägt. Tatsächlich hat die PiS in der Flüchtlingsfrage die Deutungshoheit erobert. Dagegen scheint derzeit nicht einmal die katholische Kirche anzukommen, deren Position klar für die Aufnahme von mindestens 35.000 Flüchtlingen oder gar Flüchtlingsfamilien steht. Genauso viele Pfarrhäuser gibt es in Polen und die sollen alle mindestens einen Flüchtling aufnehmen – egal welcher Glaubensgemeinschaft er angehört.

Fraglich ist, was aus den sozialen Wohltaten wird, die den Wählern versprochen wurden. Sollen diese Versprechen erfüllt werden, ist eine größere Neuverschuldung Polens zu erwarten, die destabilisierend wirken würde. Wahlkampf ist die eine Sache, Realität ist ganz anders, überall, nicht nur in Polen.

Update 27.10.2015, 17: 45 Uhr

Das endgültige und amtliche Wahlergebnis wurde vom staatlichen Wahlkomitee verkündet und ergibt, dass die PiS sowohl im Sejm als auch im Senat die absolute Mehrheit stellt.

Doch trotz dieses historisch für die Nachwendezeit einmaligen Siegs der PiS – noch nie stellte nach 1989 eine Partei die absolute Mehrheit – gab es auch für die PiS eine besonders herbe Niederlage. Ausgerechnet der Hardliner und Parteichef Jaroslaw Kaczynski steckte sie ein, denn er konnte sich in seinem Warschauer Wahlkreis nicht durchsetzen. Es siegte dort die bisherige Ministerpräsidentin Ew? Kopacz. Sie errang 231.000 Stimmen, rund 30.000 mehr als Kaczynski.

Der Fernsehsender Tvn24 berichtete bereits über ausländische Einschätzungen und Kommentare zur Wahl. Besonders zufriedene Signale seien aus Ungarn gekommen, denn in Polen hätten die Freunde von Viktor Orban gewonnen. Nicht unfreundlich zeigten sich auch Signale des Kremls. Putins Sprecher Dmitrij Pieskow verkündete, in Moskau respektiere man die Wahl des polnischen Volks. Es sei nur Schade, dass die polnisch-russischen Beziehungen nicht auf dem besten Stand sein, versicherte aber, Russland sei aber immer sehr an guten Beziehungen zu seinen Nachbarn interessiert.

Viele prominente Politiker werden nicht wieder ins Parlament einziehen, von Wirtschaftsminister und PSL-Chef Janusz Piechocinski über Ex-Ministerpräsident Leszek Miller (SLD), bis hin zu Janusz Palikot, Gründer von Twoj Ruch reicht die Reihe. Auch Ludwik Dorn, der langjährige „dritte Zwilling“ der Kaczynskis, Sejmmarschall und Vize der PiS wird nicht mehr dabei sein. Mit seiner Kandidatur auf der Liste der PO hatte er aufs falsche Pferd gesetzt.

Die amtlichen Endergebnisse der Parlamentswahl

Hier die landesweiten Wahlergebnisse

PiS                                          37,58 %
PO                                          24,09 %
Kukiz’15                                   8,81 %
PSL                                          5,13 %
Nowoczesna                            7,60 %

Nicht ins Parlament eingezogen:

ZL (Vereinte Linke)              7,55 % *
Korwin                                  4,76 %
Razem                                   3,62 %

* Für Wahlbündnisse gilt die Achtprozenthürde

Wahlbeteiligung: 50,92 %

Sitzverteilung im Sejm:
PiS                   235

PO                    138

Kukiz’15            42

Nowoczesna     28

PSL                    16

 

Sitzverteilung im Senat:
PiS                                          61

PO                                          34

PSL                                           1

Unabhängige Kandidaten      4

 

Über Brigitte Jaeger-Dabek 1608 Artikel
Brigitte Jäger-Dabek kennt Polen seit vielen Jahren und ist als freie Journalistin Polen-Expertin. Sie ist Autorin des preisgekrönten Buchs "Länderporträt Polen".