Das Polen Magazin bekam kürzlich eine Verlagsankündigung, was ja an und für sich nichts besonderes ist. Man bot das Rezensionsexemplar eines Buches an, das ein Elsässer geschrieben hat. Ein Elsässer auf der Suche nach dem Schicksal seines Vaters? Haben die sich vertan? Dies ist doch ein Polen-Magazin!
In der Verlagsbeschreibung nachlesend, wurde das Buch jedoch zunehmend interessanter, und ein Rezensionsexemplar von Martin Graffs autobiografischem Roman Grenzvagabund traf nach wenigen Tagen ein. Der 1944 geborene Autor Martin Graff ist Journalist und Filmemacher, der sich sein Leben lang kritisch mit dem Verhältnis von Deutschen und Franzosen auseinandergesetzt hat, mehr als 20 Bücher geschrieben und mehr als 200 Filme gedreht hat, dabei gewann er mehrere Journalistenpreis.
Martin Graff gerät nach der Lektüre von Jonathan Littels Roman „Die Wohlgesinnten“ selbst an der Schwelle zu Alter angekommen in eine Krise und beginnt, sich mit dem Schicksal seines Vaters zu befassen. Wie viele Elsässer ist dieser Vater noch kurz vor Kriegsende eingezogen worden und im Februar 1945 in Polen gefallen. Graff fragt sich nach der Littel-Lektüre, was sein Vater erlebt hat, und ob er sich womöglich obwohl selbst Opfer auch schuldig gemacht hat.
Nicht nur der Einsatz- und Todesort Polen stllt die Verbindung zum Themenkreis des Polen-Magazins dar, auch die Geschichte der Elsässer, gibt es doch zu den polnischen Minderheiten und gemischt nationalen Familien im Deutschen Reich in den vor dem Krieg polnischen Territorien des „Korridors“, in der Kaschubei, in Schlesien und Masuren viele Parallelen. Martin Graffs Vater gehörte zu den als „Malgré-nous“ bezeichneten zwangsrekrutierten Elsässern. Das gab es also auch im Osten, auch dort wurden junge Männer zwangsweise rekrutiert, auch die Kaschuben traf das, wie den Großvater des heutigen polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk. Noch in diesem Jahrhundert hat dieser Großvater Tusk letztlich die Präsidentschaftswahl von 2005 gekostet, als die gegnerische Partei Recht und Gerechtigkeit PiS ihm mit einer groß angelegten Kampagne über diesen Großvater und seinen ganz und gar nicht freiwilligen Wehrmachtsdienst den fast sicher geglaubten Wahlsieg noch entriss.
So gibt es viel Parallelen, schon im Ersten Weltkrieg wurden die elsässischen Soldaten des Kaiserreichs in den Osten verfrachtet, weil man ihnen nicht traute, während die Masuren an der Westfront kämpfen mussten, weil man auch ihnen nicht traute und nahe der Heinmat Verrat befürchtete.
In Martin Graffs Roman zeigen sich Wendungen und Brüche im Leben des Vaters, wie sie und heute unglaublich erscheinen und doch sind sie so wahr, wie die europäische Geschichte des vergangenen Jahrhunderts, das keine Grausamkeit ausließ und nur wenige Lebensläufe ohne harte Brüche zurückließ. So liest sich Martin Graffs Buch über seine Suche nach dem Verbleib des Vaters spannend wie ein Krimi mit jeder Menge überraschender Wendungen, denn der Vater ist nicht gefallen, sondern desertiert und schloss sich polnischen Partisanen an. Er wurde Pole und lebte ein zweites Leben mit neuer Familie. Die anfängliche Begeisterung für den Kommunismus legte sich bald und der Vater nutzte den Aufenthalt als Trainer der polnischen Ski-Langlaufmannschaft bei der Olympiade in Grenoble 1968 zur Flucht und ging in die USA. Das alles erfährt der Sohn bei seinen ausgedehnten Aufenthalten in den Bergen um Bielsko Biala, wo Schlesier und Elsässer Gemeinsamkeiten in ihren Existenzen als Grenzlandbevölkerungen erkennen. Dort lernt er auch seine Halbschwester Natascha kennen und reist dem Vater nach …
Martin Graffs Roman „Grenzvagabunden“ ist äußerst kurzweilig und spannend geschrieben und erweckt ein tieferes Verstehen nationaler und ethnischer Minderheiten und in der Geschichte hin und her geschubsten Grenzlandbevölkerungen, die mal den einen und mal den anderen als Sündenböcke dienten. Gerade der Vergleich zwischen Elsässern und Schlesiern, Kaschuben, Masuren oder welcher Minderheit auch immer entlarvt die Nationen übergreifende Anwendung der Sündenbockfunktion gegenüber ethnischen oder nationalen Minderheiten, von Menschen deren Schuld darin bestand zu leben wo sie leben und die Abstammung zu haben, die sie nun einmal haben. Es war so leicht, diese im Bewusstsein der Massen etablierte Sündenbockfunktion im Dritten Reich aufzugreifen und mit der rassistischen Komponente anzureichern. Das alles erfährt der Leser in diesem trotz allem sehr versöhnlichen Buch quasi en passent zwischen den Zeilen. Deshalb ist Martin Graffs „Grenzvagabunden“ Buche des Monats März 2011 beim Polen Magazin.