Pünktlich zum 100. Jahrestag des nationalen Wiedererstehens unseres Nachbarlandes Polen ist Gerhard Gnaucks Buch „Polen verstehen“ im Verlag Klett-Cotta erschienen. Der Band kommt gerade zur rechten Zeit, denn immer mehr Menschen in Deutschland fragen sich etwas ratlos, was denn mit den Polen eigentlich los ist.
Der 1964 in Warschau geborene Gerhard Gnauck kam mit seinen Eltern 1965 nach Mainz. Nach dem Abitur studierte er dort osteuropäische Geschichte, Slawistik und Politikwissenschaft und wurde Journalist. Er lebt seit 1999 als Korrespondent in Warschau. Bis 2018 schrieb er für die „Welt“, seit einigen Monaten ist der ausgewiesene Polenkenner für die „FAZ“ tätig.
In seiner langjährigen Tätigkeit in Polen ist der Autor Vertretern und Zeitzeugen der beiden sich heute in unserem Nachbarland so unversöhnlich gegenüberstehenden politischen Lagern begegnet und hat ihre Gedankenwelten kennengelernt.
100 Jahre polnische Unabhängigkeit
Dieser Background ermöglicht es Gnauck dem Leser das heutige Polen zutreffend zu erklären. Breiten Raum nimmt im Buch die Geschichte Polens im vergangenen Jahrhundert seit 1918 ein, der Band ist weitestgehend chronologisch aufgebaut. Erklären nämlich kann man polnische Befindlichkeiten und kulturelle Prägungen am besten aus der leidvollen Geschichte Polens. Deshalb beschränkt sich Gerhard Gnauck auch nicht ausschließlich auf das vergangene Jahrhundert, sondern streut wo nötig Exkurse in frühere Zeiten ein.
So stellt Gerhard Gnauck verständlich und stets gut lesbar dar, dass 2015 die Wahl der nationalkonservativen populistischen PiS nicht wie bei uns gern dargestellt völlig aus heiterem Himmel kam. Die tiefe Spaltung Polens und seiner Gesellschaft ist teils historisch durch die Teilungen Polens bedingt aus der über hundertjährigen Zugehörigkeit von Norden und Westen, Süden und Osten zu den drei verschiedenen Herrschaftsmächten Preußen-Deutschland, dem Habsburger Reich und Russland. Schon daraus resultierten unterschiedliche Entwicklungstempi, Modernisierungsgrade und Prägungen, die bis heute nachwirken. Dazu kommen die großen Traumata des 20. Jahrhunderts,die Polen unendliches Leid zufügten.
Doch dann schien alles gut. Von deutscher Seite wurde versucht Polen nach der Wende möglichst reibungslos zurück in die europäische Staatengemeinschaft zu helfen. Das schien fast reibungslos zu funktionieren, Polen wurde zum EU-Musterknaben und schien stolz darauf zu sein dies ohne einen „großen Bruder“ und dessen Geldströme geschafft zu haben.
Zwei Knackpunkte in der Entwicklung hin zum PiS-Staat
Doch auch wenn Polen zum größten Netto-Profiteur der EU wurde, war der Anpassungsprozess schmerzhaft und 25 Jahre nach der Wende waren die Polen der Dauerreformen und Reformen der Reformen müde. Das war deutlich zu spüren im Jubiläumsjahr 2014 und die Stimmung begann umzuschwenken. Polens Politikerelite gefiel sich auf den großen, prächtig inszenierten Jubiläumsfesten 10 Jahre EU-Zugehörigkeit und 25 Jahre politische Wende. Sie bemerkte nicht einmal mehr, wie das Volk murrte. Polens politische Führung hatte den Kontakt zu seiner Bevölkerung verloren. Dazu kamen zahlreiche Affären, in die viel zu viele Spitzenpolitiker auf die eine oder andere Art verstrickt waren. Die nationalkonservative Partei „Recht und Gerechtigkeit“, deren Anführer Lech und Jaroslaw Kaczynski waren, zeigten sich am Puls des Wahlvolks und thematisierten erfolgreich die Sorgen und Nöte der Polen. Diesen Prozess und den Sieg in der Präsidenten- und Parlamentswahl 2015 stellt Gerhard Gnauck sehr kenntnisreich dar.
Dem voraus gegangen war der Absturz der polnischen Präsidentenmaschine im April 2010 bei Smolensk, den der Autor als ersten Knackpunkt ausmacht, der die tiefe Spaltung der polnischen Gesellschaft sichtbar machte, und erklärt die Hintergründe, die das Etablieren einer Verschwörungstheorie in großen Teilen der polnischen Gesellschaft erst möglich machte.
Gerhard Gnauck räumt auf mit der in Deutschland gern vertretenen Meinung oder vielleicht eher Wunschvorstellung, die nationalkonservative Wende in Polen sei nur eine zeitweilige Erscheinung und nicht von der Mehrheit im Land getragen. Die PiS mutet den Bürgern keine weiteren Härten zu, sondern überschüttet sie mit sozialen Wohltaten. Für jede der bürgerlichen Parteien wird es schwierig werden diese wieder abzuschaffen oder auch nur zu beschränken.
Mein Tipp: Voller Sachkenntnis, aber jederzeit verständlich und gut lesbar geschrieben ist dieses Buch jedem Leser sehr zu empfehlen, der sich für Polen, seine Gesellschaft und die Politik der derzeitigen Regierung interessiert.
Foto: Gerhard Gnauck: Polen verstehen, Buchcover (c) Klett Cotta Verlag