Wie bereits seit Jahren, war auch in diesem Jahr der polnische Nationalfeiertag zur Feier der Wiedererlangung der Unabhängigkeit nach 123 Jahren polnischer Teilung am 11.11.1918 von Ausschreitungen und Gewalt gekennzeichnet. Seit dem Absturz der polnischen Präsidentenmaschine bei Smolensk am 10. April 2010 ist zu diesen Ausschreitungen eine neue Qualität hinzugekommen: unverhohlener Russenhass.
Am Vormittag finden die offiziellen Feierlichkeiten statt, dem sich der „offizielle“ von Staatspräsident Bronislaw Komorowski angeführte Marsch anschloss, der friedlich verlief. Neben den Märschen führten einige Ausstellungen zurück in die polnische Geschichte, dazu lockte eine historische Militärparade viele Warschauer in die City. Zahlreiche Volksläufer und Amateursportler nahmen in ihren T-Shirts in den polnischen Nationalfarben am „Unabhängigkeitslauf“ durch die Stadt teil.
Am Rande des am Nachmittag stattfindenden Warschauer Unabhängigkeitsmarschs ist man Krawalle fast schon gewohnt, dort treffen Antifaschisten und Linke auf Nationalisten und Rechte. Wie immer war auch in diesem Jahr ein Großaufgebot von Polizei zusammengezogen worden, um Zusammenstöße möglichst zu verhindern. Doch auch in diesem Jahr kam es wieder zu einer Straßenschlacht zwischen Polizei und Demonstranten.
Eine neue Hass- und Gewaltqualität brachte die Attacke auf die russische Botschaft ins Spiel, bei der Rechtsradikale die russische Vertretung mit Feuerwerkskörpern beschossen, und ein Wachhaus verbrannten. Innenminister Bartlomiej Sienkiewicz erklärte, seit Polen vor 24 Jahren die Unabhängigkeit wiedererlangt habe, seien an den Botschaften in Warschau unzählige Demonstrationen vorbeigezogen. Nun habe man es zum ersten Mal mit einer physischen Attacke auf das Terrain einer fremden Vertretung zu tun. Solches Barbarentum habe man bisher in Polen nicht gekannt und so haben niemand vermuten können, dass es zu einem solchen Bruch aller zivilisatorischen Normen komme.
Der Zwischenfall an der russischen Botschaft zeigt diplomatische Folgen: Der polnische Botschafter in Moskau Wojciech Zajaczkowski wurde ins Außenministerium einbestellt. Ihm wurde eine scharfe Protestnote ausgehändigt. Russland verlangt darin eine Entschuldigung, die strafrechtliche Verfolgung der Schuldigen und die Wiedergutmachung der Schäden. Aleksander Aleskijew, der russische Botschafter in Polen sprach von einer antirussischen Hysterie in Polen.
Auch der Regenbogen, das anläßlich der polnischen EU-Ratspräsidentschaft von 2011 errichtete Symbol für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender, wurde von gewaltbereiten Nationalisten niedergebrannt. Die 26 Meter breite Kunstblumen-Installation von Julia Wojcik steht für ein tolerantes Polen und wurde bereits mehrfach Opfer von Attacken des rechten Mobs.
Insgesamt nahmen an den beiden Märschen in Warschau mehr als 100.000 Menschen teil. Während der Krawalle am gestrigen polnischen Unabhängigkeitstag wurden 12 Polizisten verletzt und 72 mutmaßlich gewalttätige Demonstranten verhaftet worden. Die Polizei kündigte inzwischen weitere Festnahmen an. Die bisher aufgenommenen Schäden betragen 120.000 Zloty.
Mit der liberalen Gazeta Wyborcza und der konservativen Rzeczpospolita machen sich die beisen einflußreichen polnischen Tageszeitungen Gedanken über ein immer mehr in zwei Gruppen zerfallendes Gedenken an die polnische Unabhängigkeit. So würde der polnische Ex-Premier und Vorsitzende der Oppositionspartei PiS Jaroslaw Kaczynski siet Jahren die offiziellen Gedenkfeiern mit viel begleitendem Wirbel boykottieren. Damit brüskiere er nicht nur den amtierenden Präsidenten Bronislaw Komorowski, sondern auch damaligen Politikern wie Ignacy Paderewski und den Kämpfern, die Polens Wiedererstehen errungen hätten die Ehrerbietung verweigert. Seine Begründung seine eine äußere Bedrohung der polnischen Unabhängigkeit, diesmal wolle eine EU-gesteuerte europäische Föderation Polen die Unabhängigkeit rauben. Außerdem seien – wieder einmal – während des Marsches der Rechten homophobe Parolen skandiert worden. Auf der anderen Seite haben die Menschen, die den Päsidenten auf dessen Marsch begleiteten sich ruhig und besonnen verhalten. Auf die Frage, ob ein Dialog von Menschen mit so fundamental verschiedenen Geschichtsbildern möglich ist, kommt die Gazeta Wyborcza zu diesem Schluss: Ja, das sei möglich, aber nur, wenn der von Bedrohung redende Kaczynski einen Spiegel mitbringe.
Ähnlich sieht es die Rzeczpospolita. Man habe am Unabhängigkeitstag zwei Polen beobachtet, eines, das den 95. Jahrestag der Unabhängigkeit mit dem Marsch feierte, den Präsident Komorowski anführteIn diesem Rahmen gab es den gemeinsamen. Und dann habe es noch den Marsch von Jaros?aw Kaczynski und der Nationalisten gegeben. Nun sei eskeine Katastrophe, dass die Bürger Polens nicht gemeinsam feiern, denn die Möglichkeit der Auseinandersetzung miteinander sei ja der Reiz der Demokratie. Allerdings dürfe man erwarten, dass es die Gemeinsamkeit der Vaterlandsliebe gebe. Diese Grenze aber sei am Nationalfeiertag gefallen, denn das Polen des zweiten Marsches bestünde aus Hooligans und Krawallmachern, die die Unabhängigkeit gar nicht zu schätzen wüssten, liest man zusammenfassend in der Rzeczpospolita.
Das Wachhaus der russischen Botschaft brennt:
.
Weitere Artikel der Serie
- Smolensk: Der Absturz der Präsidentenmaschine darf kein Unfall sein (11. April 2016)
- Smolensk - Katatstrophe 2010: Regierung in Polen setzt Untersuchungsausschuss 2.0 ein (8. Februar 2016)
- Polen: Die Katastrophe von Smolensk - 5 Jahre danach (10. April 2015)
- Gewalt am polnischen Nationalfeiertag (12. November 2013)
- Straßburg: Polnische Katyn-Hinterbliebene mit Klage gegen Russland gescheitert (22. Oktober 2013)
- Smolensk teilt Polen wie eine Mauer (10. April 2013)
- Jadwiga Kaczynska, die Mutter von Lech und Jaroslaw Kaczynski ist tot (21. Januar 2013)
- Polens Politik zum Jahreswechsel – Rückblick und Ausblick (4. Januar 2013)
- Smolensk: Das Drama geht in die nächste Runde (2. November 2012)
- Polen: Smolensk und kein Ende (4. Oktober 2012)
- Smolensk: PiS-Bericht vermutet Explosion als Absturzursache (14. September 2012)
- Polen: Start in die EURO 2012 (11. Juni 2012)
- Polen zwei Jahre nach der Katastrophe von Smolensk – Eine Bilanz (20. April 2012)
- Polen Wahl: Kaczynski sieht Merkels Kanzlerschaft als Werk dunkler (Stasi-?)Mächte (4. Oktober 2011)
- Wahlkampf Polen: Kaczynskis Multimedia-Offensive (28. September 2011)
- Polen: Reaktionen auf den Smolensk-Abschlussbericht (4. August 2011)
- Polen: Smolensk-Abschlussbericht räumt eigene Schuld am Flugzeugabsturz ein (30. Juli 2011)
- EDITORIAL: Polen am Scheideweg (21. April 2011)
- Polen vor dem Wahlkampf –Komorowski und Medwedew in Smolensk (13. April 2011)
- Polen ein Jahr nach der Katastrophe von Smolensk (11. April 2011)
- Verändert Katyn Russland? (14. Februar 2011)
- Polen: Diskussionen über russischen Smolensk-Abschlussbericht (14. Januar 2011)
- Smolensk-Bericht: Fehler der polnischen Piloten Absturzursache (12. Januar 2011)
- Polen: 2010 war ein gutes Jahr (31. Dezember 2010)
- Smolensk-Ermittlungen sind politischer Flop des Jahres in Polen (29. Dezember 2010)
- Bronislaw Komorowski Mann des Jahres in Polen (29. Dezember 2010)
- EDITORIAL: Zum Jahreswechsel (23. Dezember 2010)
- Die Verschwörungs-Theorien der Kaczynskis (22. Dezember 2010)
- Polen: Nach dem Staatsbesuch von Medwedew (8. Dezember 2010)
- Medwedew zum Staatsbesuch in Polen (7. Dezember 2010)
- Katyn: Russische Staatsduma verurteilt Verbrechen an Polen (30. November 2010)
- Polen vor der Kommunalwahl (19. November 2010)
- Russen sprechen Polen schuldig (21. Oktober 2010)
- TV-Tipp Polen: Polen sucht sich selbst - Ein Flugzeugabsturz und seine Folgen (23. September 2010)
- Polen fordert Wrack der Präsidentenmaschine zurück (23. September 2010)
- Polen: Doch Druck auf die Piloten der verunglückten Präsidentenmaschine? (16. Juli 2010)
- Flugzeugabsturz Smolensk: Leichenfledderei russischer Soldaten (8. Juni 2010)
- Absturz von Smolensk: Abschrift der Blackbox-Aufzeichnungen in Polen veröffentlicht (2. Juni 2010)
- Erste Ermittlungsergebnisse zum Absturz der polnischen Präsidentenmaschine (20. Mai 2010)
- Polen: Die letzten Opfer von Smolensk sind heimgekehrt (24. April 2010)
- EDITORIAL: Polen nach der Tragödie von Smolensk (19. April 2010)
- Bewegende Trauerfeier in Warschau (17. April 2010)
- Polen: Streit um den Begräbnisort Wawel (15. April 2010)
- Wortlaut der geplanten Rede von Kaczynskiy in Katyn (14. April 2010)
- Polen nimmt Abschied vom Präsidentenpaar (13. April 2010)
- Die polnische Tragödie (13. April 2010)
- Liste der Opfer des Flugzeugunglücks vom 10. April 2010 bei Smolensk (12. April 2010)
- Polen trauert um den Präsidenten und seine Elite (12. April 2010)
- Polen: Präsident Lech Kaczynski stirbt bei Flugzeugabsturz (10. April 2010)