Eigentlich ist ein Nationalfeiertag, der an die Wiedergewinnung der Souveränität erinnert, ein Grund zur Freude. Am 11. November 1918 war der 1. Weltkrieg de facto zu Ende. Damit waren nach 123 Jahren Fremdherrschaft und Teilung Polens auch die Teilungsmächte, das deutsche Kaiserreich, das österreichisch-ungarische Habsburger Reich und das russische Zarenreich am Ende und in Auflösung begriffen. So proklamierte der Regentschaftsrat des Regentschaftskönigsreichs Polen (seit dem 5. November 1916 bestehend und die von den Mittelmächten Deutschland und Österreich-Ungarn jeweils kontrollierten polnischen Territorien umfassend) bereits am 7. Oktober 1918 in Warschau Polens Souveränität und übernahm wenige Tage später die Befehlsgewalt über die Armee. Der aus der Haft in Magdeburg entlassene einflussreiche polnische Offizier Jozef Pilsudski wurde Oberbefehlshaber der polnischen Armee und übernahm die Funktion des Regentschaftsrats, damit wurde er vorläufiger Präsident Polens. Endgültig wurde Polen wieder ein souveräner Staat mit Inkrafttreten des Versailler Vertrags.
Doch dieser Gedenktag ist in Polen schon seit Jahren keine ungetrübte Freude mehr. Vor allem in Warschau aber sahen viele Polen dem 11. November 2012 mit gemischten Gefühlen entgegen. In den letzten Jahren war der Unabhängigkeitstag zunehmend auch ein Tag der Gewalt, an dem sich Linke, Autonome und Rechtsaußen-Gruppierungen Straßenschlachten in der polnischen Hauptstadt lieferten.
Bereits im vorigen Jahr war es in Warschau bei den diversen Feiern und Märschen zu schweren Auseinandersetzungen und Straßenschlachten gekommen. Da sowohl die Nationalklerikalen und die rechtsradikale Allpolnische Jugend als auch linke Gruppierungen Märsche angemeldet hatten, war auch in diesem Jahr mit Krawallen zu rechnen. Doch diesmal wollte sich die Polizei gewappnet zeigen und mit einem massiven Aufgebot Präsenz zeigen und Randalierer abschrecken. Das wurde auch in Gesprächen den Organisatoren der diesjährigen Veranstaltungen klar gemacht. Dazu hatten die Veranstalter Auskunft zu geben, welche Gruppen sich angemeldet hätten und wie man sich deren Anreise vorstelle. Selbst Busunternehmer wurden minutiös befragt.
Präsident Bronislaw Komorowski rief zu einem „Marsch für die Einheit Polens“ auf, an dem rund 10.000 Polen teilnahmen, die friedlich an den 11. November 1918 erinnerten. Dazu legte Komorowski nicht nur wie üblich einen Kranz am Grabmahl des unbekannten Soldaten nieder, sondern auch an den Statuen von Jozef Pilsudki und Roman Dmowski. In seiner Rede betonte Komorowski die Gegnerschaft dieser beiden polnischen Politiker, die beide jedoch nicht gehindert habe,gemeinsam das Polen der Zwischenkriegszeit aufzubauen. Mehr Einheit forderte Komorowski von den Polen, denn das öffentliche Leben werde vom ewigen Streit vergiftet. Er missbilligte, dass derzeit der politische Gegner leichtfertig der übelsten Verbrechen beschuldigt werde, und erinnerte noch einmal an Dmowski, Pilsudki und die anderen Erbauer des neuen Polen, deren Meinungsvielfalt erstaunlich sei.
Doch half das alles nicht: Nach dem Unabhängigkeitsmarsch rechter und rechtsradikaler Gruppierungen kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen, obwohl selbst die Organisatoren zur Ruhe und Befolgungen der geplanten Route aufgerufen hatten. Daraufhin griff die Polizei ein, und versperrte den von der gemeldeten Route abweichenden Demonstranten den Weg. Maskierte Demonstranten fingen an Steine, Feuerwerkskörper und brennende Fackeln auf die Polizisten zu werfen. Nebenbei überfielen rechte Gewalttäter das Büro der Homosexuellenorganisation „Lambda“ in der Warschauer Innenstadt, berichtet die polnische Nachrichtenagentur PAP. So ergibt die vorläufige Bilanz der diesjährigen „Feierlichkeiten“ trotz des großen Polizeiaufgebots 24 Verletzte und 132 festgenommene Demonstranten aus dem rechten Lager.
Auch Polens Medien beschäftigt das Thema, das vor allem eines aufzeigt: die unversöhnliche Gegnerschaft einer tiefen Spaltung, die auch das politische Warschau kompromissunfähig macht. Der Journalist Pawel Wronski betont in der liberalen Tageszeitung Gazeta Wyborcza, auch wenn es bei dem Unabhängigkeitstag zwei Märsche gegeben habe, und völlig unterschiedliche Visionen des polnischen Staates sichtbar wurden, habe dennoch die Mehrzahl der Demonstranten gerufen, Polen gäbe es nur einmal. Die konservative Tageszeitung Rzeczpospolita titelt sinngemäß übersetzt „Jeder für sich feiert eine Unabhängigkeit“. Das Blatt betont die mangelnde Einheit unter Polens Politikern, die es nicht fertigbringen gemeinsam die Unabhängigkeit ihres Landes zu feiern – Jaroslaw Kaczynski legte Blumen an den Statuen von Dmowski und Pilsudski nieder, natürlich vor Komorowski – und nicht einmal ihre Emotionen unter Kontrolle halten könnten. So habe Janusz Palikot den Abriss des Dmowski-Denkmals verlangt und forderte die Polen auf, am Feiertag daheim zu bleiben.
Tadeusz Rydzyk, Redemptoristenpater und Chef des Medienimperiums um Radio Maryja, das eine stramm rechte nationsclistisch-katholische Position vertritt kommentierte das Geschehen in Warschau direkt über seinen Sender Radio Maryja. Er dankte der Jugend für die Teilnahme am Unabhängigkeitsmarsch und beschuldigte die Polizei, die Zusammenstöße provoziert zu haben. Die Polizei habe sich da etwas ausgeknobelt, die dauernden Polizeisirenen und die furchtbar vielen Polizisten hätten den Menschen Angst gemacht, verkündete Rydzyk über Radio Maryja.