„Vernichtung – Die deutsche Ordnungspolizei und der Judenmord im Warschauer Ghetto 1940-43“, das im Prospero-Verlag erschienene Buch des deutschen Historikers Stefan Klemp ist eine detaillierte Darstellung der Rolle der deutschen Ordnungspoliei beim Judenmord im Warschauer Ghetto und räumt auf mit zahlreichen Mythen, die noch immer im gesellschaftlichen Geschichtsbild des Holocaust bestehen.
Mythos Nummer eins ist die Jahrzehnte lang in deutschen Köpfen herrschende Vorstellung, der Holocaust sei ein von vergleichsweise wenigen Deutschen aus den Reihen der SS und planerisch von Mitarbeitern des SS-Reichssicherheitshauptamts begangener industrieller Massenmord mit Giftgas gewesen. Es war Daniel Goldhagens zwar kontrovers diskutiertes Buch „Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“, das trotz reichlicher Detailkritik in der deutschen Öffentlichkeit mit dieser Vorstellung aufräumte. Es machte erstmals einer breiten Öffentlichkeit klar, dass der millionenfache Mord nicht die alleinige Tat von SS-Leuten war und das zwar Auschwitz Symbol des Holocausts war, die Hälfte der sechs Millionen ermordeten Juden von Einsatzkommandos außerhalb der Vernichtungslager begonnen wurde, vor allem von Einsatzkommandos und Polizeibataillonen. Stefan Klemp räumt damit auf mit dem Mythos der „sauberen“ Ordnungspolizei, die „Freund und Helfer“ des Bürger sein will.
Waren die Schreibtischtäter, die den Holocaust planten und organisierten noch überwiegend in den Reihen von SS, SD und Gestapo zu finden, waren es vor allem Ordnungspolizisten, die im Warschauer Ghetto das „Alltagsgeschäft“ des Mordens besorgten. Ordnungspolizisten zeigten sich dabei als überaus eifrig und das Morden musste oft nicht einmal befohlen werden, denn viele Ordnungspolizisten mordeten aus eigenem Antrieb, weil sie entweder Überzeugungstäter, Exzesstäter oder Psychopathen waren. Fast alle taten sich dabei schon vorher als extrem gewalttätig hervor. Stefan Klemp nennt zu diesem Komplex auch Zahlen, demnach hätten 60% der NS-Gewalttäter auf Befehl gehandelt, rund 20% seien dem Bereich brutaler Exzesstäter und der Gruppe zuzurechnen, die aus eigener Initiative mordeten. Damit greift Klemp Mythos Nummer drei an der besagte, dass die Täter „ganz normale Männer“ gewesen sein. Der Historiker Christopher Browning hat die Verhaltensweisen im Polizeibataillon 101 untersuch. Er bestätigt die Zahlen vom Klemp im Wesentlichen und sieht ebenfalls die größte Gruppe in den Befehlstätern und einen Kern von Tätern, die freiwillig auf „Judenjagd“ gingen sowie eine kleine Gruppe von Männern, die sich dem Befehl entzogen (Klemp S.12).
Kein Ordnungspolizist musste in Warschau um sein Leben fürchten, wenn er die Teilnahme an Tötungsaktionen verweigerte, es gab durchaus Handlungsoptionen. In keinem bekannt gewordenen Fall wurde ein Polizist etwa mit KZ-Haft oder dem Tod bedroht. Jeder Polizist hatte damals Handlungsoptionen, unter anderem auch durch das Polizeigesetz, auf das sich einige Polizisten beriefen.
Der einzelne Polizeibeamte war an der Ghettomauer oder am Ghettotor Herr über Leben und Tod, konnte hemmungslos schalten und walten und töten wann er wollte, und wen er wollte, sofern das Opfer denn Jude war. Gruppendruck tat ein Übriges dazu. Dennoch – kein Polizist war zu Exzessen wie Schützenfesten und eigentlich unbeschreiblicher Bestialität gezwungen – Blutrausch kann man nicht befehlen.
Einzelne Polizisten wetteiferten in Warschau darum, Schützenkönig zu werden, wenn sie in einer vorher festgelegten Zeit nachweislich die meisten Juden ermordet hatten, so geschehen beim Polizeibataillon 61 (Klemp S.34), einige Tatschilderungen sind kaum zu ertragen. Liest man in Stefan Klemps Buch Zeugenberichte wie über den Totenkopfjäger (Klemp S.20 ff), möchte einem das Blut in den Adern gefrieren.
Der vierte Mythos, mit dem Stefan Klamp in seinem Buch aufräumt, ist eine gerade in der Bundesrepublik erfolgte Aufarbeitung der NS-Verbrechen. Geradezu beschämend für das Selbstbild „Rechtsstaat“ ist das bis heute beibehaltene Bild von der Polizei als „Freund und Helfer“ der Bevölkerung. Stefan Klemp zeigt ein fast völliges Versagen der bundesdeutschen Justiz auf. Dutzende Verfahren wurden eingestellt, weil die Täter sich „im Befehlsnotstand“ befunden hätten und nicht aus eigener Überzeugung und Initiative getötet hätten. Stefan Klemp weist das Gegenteil nach und nennt die Handlungsoptionen. Nur der von Himmler persönlich mit der Niederschlagung des Ghetto-Aufstands beauftragte SS-Gruppenführer und Generalleutnant der Polizei Jürgen Stroop, ,konnte sich der kollektiven Reinwaschung nicht erfreuen. Seine Verbrechen waren im erhalten gebliebenen „Stroop-Bericht“ aktenkundig, mit dem er Hitler persönlich die Liquidierung des Warschauer Ghettos meldete. Stroop wurde im Mai 1945 trotz falscher Papiere festgenommen, angeklagt, zum Tode verurteilt und am 6. März 1952 wegen vieltausendfachem Mord es in Polen hingerichtet.
Stefan Klemp hat mit seinem Buch „Vernichtung – Die deutsche Ordnungspolizei und der Judenmord im Warschauer Ghetto 1940-43“ einen wertvollen Beitrag zur Erforschung der NS-Verbrechen geleistet. Das akribisch recherchierte Buch räumt auf mit einigen Mythen deutscher Geschichtsbetrachtung und ist ein gut lesbares und vor allem wichtiges Buch.
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